BEWUSSTER Führen: Von Problemen und Lösungen

Immer wenn ich ein Führungstraining gebe, stehe ich als vermeintliche Expertin vorne und spüre den Druck, bitte endlich zu sagen, was wer zu tun hat und wie es richtig geht. Die Versuchung Lösungen zu präsentieren um zu gefallen (oder um nicht in Ungnade zu fallen) ist immens hoch. Manchmal kann ich Anleitungen oder Antworten geben – manchmal jedoch nicht. Weil ich es auch nicht weiß. Weil ich es gar nicht wissen kann und die Menschen ihre eigenen Erfahrungen machen und ihren eigenen Weg finden müssen.

Genauso geht es vielen Menschen im Arbeitsalltag, insbesondere dann, wenn sie Verantwortung tragen und viele Menschen sich an ihnen orientieren, wenn es schwierig wird. Wann sollten wir in solchen Situationen Lösungen vorgeben? Wann sollten wir die Lösung an Experten delegieren? Und wann sollten wir den Menschen Raum geben, um ihre eigenen Antworten zu finden?

Eine Unterscheidung, die uns strategischer mit diesen Fragen umgehen lässt, ist die zwischen technischen und adaptiven Herausforderungen von Ronald Heifetz. Um diese Unterscheidung zu verdeutlichen, ein Beispiel aus einem ganz anderen Kontext: 

Wenn jemand einen Herzinfarkt hat, kommt der Patient – zum Glück – in den meisten Fällen rasch ins Krankenhaus. Dort wird dann diagnostiziert, dass die Herzkranzgefäße blockiert sind. Das Problem ist dadurch klar definiert. Daraus können die zuständigen Ärzte eine ebenso klare Lösung ableiten: Es braucht ein Medikament oder eine Operation um die Versorgung des Herzmuskels wieder zu gewährleisten. Das Problem ist „gelöst“. Die Lösung des Problems können wir getrost in die Hände von Experten (in diesem Fall das medizinische Team) geben, Hindernisse für diese Lösung liegen vor allem im Bereich von Ressourcen (Zeit, Geld, die medizinische Infrastruktur des Landes). Diese Art von Herausforderungen nennen wir „technisch“.

Nach der OP aber kommt eine ganz andere Sorte Herausforderung: Die Reha und die Ärzte sagen dem Patienten dann „Sie haben offenbar eine koronare Herzerkrankung.” Unklar bleibt dabei jedoch häufig, was die genaue Ursache dafür ist. Die Ernährung umzustellen, Stress zu reduzieren, mehr Sport zu treiben – all das wird von Patient zu Patient unterschiedlich aussehen. Keine dieser „Lösungen“ kann der Patient an den Arzt abgeben, er (oder sie) muss das eigene Verhalten verändern. Und keine dieser Lösungen wird je „abgehakt“ werden können – wir müssen uns kontinuierlich weiter darum bemühen. Dabei stehen uns Geld, Zeit und andere Ressourcen wesentlich weniger im Weg als unsere Gewohnheiten, unsere Werte, unsere Kultur, unsere Loyalitäten und unsere Sorgen. Diese Art von Herausforderungen sind „adaptiv“.

Technische vs. adaptive Herausforderungen

Technische vs. adaptive Herausforderungen

Zwischen technischen und adaptiven Herausforderungen zu unterscheiden kann sehr hilfreich dafür sein, strategischer zu führen. Ist ein Problem vorrangig technischer Natur, kann ich es als Experte lösen (oder ich suche mir einen Experten, der das für mich tut). Ist es jedoch vor allem adaptiver Natur, dann besteht meine Aufgabe darin, die betroffenen Personen in einem Lernprozess zu begleiten. Das bedeutet, dass ich Komplexität und Unsicherheit aushalten und Verantwortung zurückspielen können muss. 

Die Probleme, mit denen wir im beruflichen Kontext konfrontiert sind, haben häufig sowohl technische als auch adaptive Bestandteile. Ein Beispiel aus unserer Beratungspraxis: Ein Unternehmen möchte, dass seine Mitarbeiter über Standorte und Abteilungen hinweg stärker zusammenarbeiten. Dafür hat das Unternehmen eine Firma beauftragt, eine Online-Plattform mit Chat-Funktion einzurichten. Zudem wurden zusätzliche, abteilungsübergreifende Meetings eingerichtet. Dies sind beides technische Lösungen für technische Aspekte des Problems. Doch nach einem halben Jahr hat sich kaum etwas verändert. Die Online Forum wird fast gar nicht besucht und in den Meetings versucht jeder möglichst gut dazustehen. Dieser Teil der Herausforderung ist adaptiv. In unserer Beratungsarbeit erleben wir oft, dass die adaptiven Aspekte vernachlässigt werden – und Veränderung deswegen oft auf der Strecke bleibt.

Welche Erfahrungen macht ihr damit? Kennt ihr Beispiele, bei denen Probleme nur technisch angegangen wurden? Und wie begegnet ihr adaptiven Herausforderungen?

Aufbauend auf: Heifetz, R., Grashow, A., Linsky, M. (2009). The Practice of Adaptive Leadership. Boston, MA: Harvard Business School Press.